2010•035 - T E X T:
einer Zerstörung aller Bindungen und
einer strukturellen Verantwortungslosigkeit
pervertiert [wurde], die wir fĂŒr ein
freiheitliches, solidarisches und friedliches,
ĂŒberhaupt fĂŒr ein sinnvolles Leben
brauchen. Damit wurden die dazu gehörigen
Werte ausgehöhltâ.
Eine Krise, so hören wir mittlerweile immer
hÀufiger, hat jedoch zuweilen auch
etwas Gutes. Ganz offensichtlich war in
Vergessenheit geraten, dass eine Wirtschaftsordnung,
wie Horst Köhler sagt,
stets zugleich eine Werteordnung ist. In
Thomas Manns Roman Buddenbrooks
bringt der alte Konsul Buddenbrook dies
auf einfache und schlichte Weise zum
Ausdruck, wenn er seinem Sohn Thomas
einschĂ€rft: â..sei mit Lust bei den GeschĂ€ften
am Tage, aber mache nur solche,
dass wir bei Nacht ruhig schlafen können.â
KaufmÀnnisches Handeln ist, mit
anderen Worten, ohne die Regeln des
Anstands und der Ehrlichkeit nicht zu
verantworten, und dies gilt gewiss auch
fĂŒr den Handel auf den internationalen
FinanzmÀrkten mit all ihren so schwer
durchschaubaren Verflechtungen. NatĂŒrlich
ist oekonomische Expertise dabei
nach wie vor unersetzlich, aber sie muss
sich verbinden mit einem prÀzisen Blick
fĂŒr sittlich zu verantwortendes Risiko
und klar definierte Verantwortung.
Dass Ihr, liebe Abiturientinnen und Abiturienten,
in Euren letzten Schultagen
noch die Aufstellung der Vier Kardinaltugenden
auf unserem Schulplatz erleben
konntet, ist gewiss ein Zufall. Die gleichsam
immerwÀhrende AktualitÀt ihrer Bedeutung
hÀtte indes kaum besser veranschaulicht
werden können als durch die
weltweite Finanzkrise der vergangenen
Monate. Die zerstörerische, âschrankenlose
Freiheitâ und die âMaĂlosigkeitâ,
die Horst Köhler und Gesine Schwan als
Wurzel allen Ăbels benennen, hĂ€tten
ja erkannt werden können. Nur hÀtten
sich die Verantwortlichen zunÀchst auf
die discretio besinnen mĂŒssen, die der
Hl. Benedikt in seiner berĂŒhmten Regel
als die Mutter der Tugenden bezeichnet.
Discretio hat in diesem Kontext nichts
mit Takt und FeingefĂŒhl zu tun, sondern
meint das discernere, d.h. das genaue
Hinschauen und Unterscheiden, das, wie
Pater Dr. Albert AltenÀhr in seinem Aufsatz
fĂŒr das demnĂ€chst erscheinende
Themenheft des VAD zu den Kardinaltugenden
schreibt, zur Tugend des MaĂes
und MaĂhaltens fĂŒhrt. Doch Gier und Eigennutz
haben jedes GespĂŒr fĂŒr MaĂ und
Gerechtigkeit vergessen lassen.
Dass der neue PrÀsident der Vereinigten
Staaten sich ĂŒbrigens all dieser ZusammenhĂ€nge
bewusst ist, dĂŒrfen wir getrost
annehmen. Deutlich wurde dies bei
ersten Entscheidungen seiner Amtszeit,
aber auch bereits am Ende seiner Inaugurationsrede.
Er sagte mit einem Blick
auf die vor ihm liegenden Aufgaben, dass
die Herausforderungen (challenges) neu,
die Werte, auf denen der Erfolg der amerikanischen
Gesellschaft beruhe, jedoch
alt seien. Und da er in einer lÀngeren
AufzÀhlung die Werte immer paarweise
nennt, ist es interessant zu beobachten,
dass er ganz zu Beginn hard work mit
honesty verbindet. Ist er hier nicht ganz
nahe beim alten Konsul Buddenbrook?
Nun, so wie die Welt momentan eine epochale
ZĂ€sur erlebt, beginnt auch fĂŒr Euch,
liebe Abiturientinnen und Abiturienten,
ein völlig neuer Lebensabschnitt. Ihr seid
mit Recht stolz auf das in Eurer Schulzeit
erworbene Wissen und Können, auf Eure
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